7 Fragen zu Einflüssen auf das kindliche Essverhalten
Katja Kröller, Professorin für Ernährungspsychologie an der Hochschule Anhalt hat Antworten
1. Welche Faktoren nehmen denn Einfluss bei der Entstehung und Prägung des kindlichen Essverhaltens?
Die Einflussfaktoren sind unglaublich zahlreich: Wir haben Aspekte, die im genetischen Bereich liegen, etwa die Geschmackspräferenz für süß. Das ist kein Umstand, den man verändern kann. Hinzu kommen prä- und postnatale Faktoren, die bereits im Mutterleib über das Fruchtwasser wirken und alles Weitere, was an festen bzw. flüssigen Lebensmitteln darauf folgt.
Man darf nicht unterschätzen, wie schnell Dinge wahrgenommen werden, z. B. an Lebensmitteln oder Strukturen (beispielsweise gemeinsame Mahlzeiten am Familientisch). Bereits im ersten Lebensjahr spielt dies eine Rolle und zieht sich weiter bis zur Kita: Was essen die Betreuungskräfte, was die Freunde? Welche Gerichte oder Lebensmittel sind in Bilderbüchern abgebildet? Hinzu kommt die Werbung, mit der man praktisch ständig konfrontiert ist. Ob im Fernsehen oder in Kinderprogrammen auf dem Tablet, das ist teilweise alles mit Werbung belegt. Von diesem Faktor wissen wir, wie er grundsätzlich auf das Essverhalten wirkt, auch wenn Vieles davon unbewusst bleibt und wir nie genau sagen können, was wie stark Einfluss nimmt.
Nehmen wir den Joghurt mit einer bunten Figur als Beigabe. Beides wird direkt assoziativ verknüpft. Selbst wenn die Mama oder der Papa erzählt, dass in solchen Produkten unter anderem viel Zucker enthalten ist, erlangt diese Information überhaupt keine Bedeutung. Wenn Kinder dann in die Kita kommen, werden diese Konzepte im Grunde genommen nicht ersetzt – wir erweitern sie lediglich, denn andere, neue Erfahrungen kommen hinzu.
2. Gibt es Lebensmittel, die Kinder eher präferieren bzw. solche, die sie eher ablehnen?
Es gibt die Süßpräferenz, die ich schon erwähnt habe. Lebensmittel, die süß schmecken, werden generell bevorzugt – vor allem von Kindern. Danach könnte man Nahrungsmittel ein bisschen einteilen: Kinder mögen rote Paprika meist lieber als grüne, süßeres Gemüse oder Obst lieber als nicht so süßes. Diese Vorliebe haben wir grundsätzlich alle.
Schon früh gewöhnen sich Kinder an den Geschmack der Muttermilch und später an den der Beikost, der nach einer Mischung und in der Regel nicht eindeutig nach einem „puren“ Lebensmittel schmeckt. Hier könnten wir uns im Übrigen etwas von anderen Ländern abgucken und Säuglingen bereits früh noch ganz andere Geschmacksrichtungen als Möhre und Pastinake, etwa Aubergine oder grüne Bohnen, anbieten. Fisch ist z. B. ein Lebensmittel, dass Kinder häufig ablehnen und das wahrscheinlich einfach aus dem Grund, weil es anders schmeckt, neu ist und sie es nicht gewöhnt sind.
3. Wie erklärt sich, dass Kinder auf dem Teller einzelne Komponenten eines Gerichts auseinandersortieren, etwa die Erbsen im Gemüseauflauf von den Möhren und den Nudeln trennen?
Zum einen prägt das Angebot den Geschmack. Das ist kein bewusstes Vorgehen. Zum anderen kommt ein entwicklungspsychologischer Aspekt hinzu, nämlich eine gewisse Kontrolle. Kinder wollen ja lernen und nehmen Dinge auseinander, um sie einzeln wahrzunehmen. Das heißt sie übernehmen ab dem Zeitpunkt, an dem sie motorisch dazu in der Lage sind, das Essen zu trennen, eine Art von Kontrolle und essen die Lebensmittel dann auch einzeln. Im Alter von etwa eineinhalb Jahren erleben wir häufig einen Bruch. Erziehungsberechtigte berichten dann, dass ihr Kind bis jetzt alles gegessen hat und auf einmal mäkelt. Hier haben wir es mit der Phase zu tun, in der Kinder Speisen(komponenten), die sie noch nicht kennen bzw. für sie erstmals etwas Neues darstellen, ablehnen. Dahinter steckt ein sich bewusst werden, was dann dazu führt, dass das Kind (evolutionsbedingt) vorsichtiger ist und sich gleichzeitig zunächst anschaut, was genau es isst. So wird Neues kennengelernt. Trotzdem sollten weiterhin viele verschiedene Gerichte angeboten werden, dann gerne auch getrennt, obwohl ich nicht auf den Auflauf verzichten würde. Soll das Kind ruhig alles separieren; das ist legitim.
Ich finde, man braucht auch seine Abneigungen. Das ist ein wichtiges Phänomen. Es gibt Studien, die ganz klar zeigen, dass Ablehnungen einen größeren Zusammenhang haben: Mit den elterlichen Abneigungen stimmen Kinder eher überein als mit deren Präferenzen. Es hat ein Stück weit mit dem Zusammengehörigkeitsgefühl zu tun, wenn wir familienintern etwas nicht mögen. Gleichzeitig werden solche Lebensmittel/ Speisen wahrscheinlich auch seltener angeboten. Wie gesagt, ich glaube, dass es entwicklungspsychologisch gesehen wichtig ist, dass jeder seine Nische findet. Viele Eltern erzählen beispielsweise, dass eines ihrer Kinder problemlos alles isst und das andere nicht. Jedes Kind muss sich von dem anderen Geschwisterkind abgrenzen können und bekommt darüber seine ganz eigene Aufmerksamkeit.
4. Kann man denn unter den Kindern verschiedene Ess-Typen unterscheiden?
Mit den Ess-Typen muss man tatsächlich ganz vorsichtig sein. Man kann sie weniger empirisch bestätigen – trotzdem gibt es natürlich Zusammenhänge. Wenn ein Kind von seiner Persönlichkeit her generell ein bisschen vorsichtiger und/ oder ängstlicher ist, vielleicht auch ein bisschen introvertiert, dann ist das häufig auch beim Essen so. Es wird sich nicht unbedingt um ein Kind handeln, das sofort die exotischsten Gerichte probiert und gleichzeitig meist eher ein bisschen langsamer beim Essen sein. Bei kleinen Kindern hat das Spielen beispielsweise noch einen hohen Stellenwert und das Essen häufig nicht so.
Mahlzeiten sind oft ein Feld für Abgrenzung und das Lernen von Selbständigkeit. Kinder bekommen relativ schnell mit, dass Essen ein wichtiges Thema ist, wenn Eltern sich häufig Sorgen machen, es aber nicht gut dominieren können. Es sollte daher wenig Aufmerksam bekommen.
5. Uns begegnen immer wieder Aussagen wie „Das essen die Kinder in unserer Kita(gruppe) nicht!“ Wie kann das sein, dass z. B. das gleiche Gericht oder Lebensmittel an einem Standort abgelehnt wird und an einem anderen gut ankommt?
Wir wachsen in einem bestimmten Kontext auf und die Dinge sind wir dann auch gewöhnt. Wenn wir in eine neue Umgebung kommen, erweitern wir diesen Zusammenhang plötzlich, das heißt ein Kind erhält während der Betreuung die Chance zu schauen, ob es etwas mag oder eben nicht. Gemeinschaftsverpflegungseinrichtungen haben hier ein bisschen mehr Steuerungsmöglichkeiten, als das im Elternhaus praktisch der Fall ist, und können Kindern andere Entwicklungsmöglichkeiten bieten. Wenn Kinder etwas in der Kita essen, ist das super – das ist aber überhaupt keine Garantie dafür, dass sie die gleichen Speisen zu Hause plötzlich auch essen. Aber es erweitert den Erfahrungshorizont.
Verziehen pädagogische Fachkräfte am Esstisch das Gesicht, weil sie z. B. den angebotenen Kohlrabi nicht mögen, essen Kinder weniger davon. Ein einzelnes Kind wird sich nicht wirklich trauen, zuzugeben, wie großartig es ihm schmeckt, wenn einzelne oder mehrere in der Gruppe komisch auf eine Speise blicken. Deshalb entstehen solche Gruppenprozesse. Da wird mehr abgelehnt, als es beim Individuum der Fall wäre. Auf jeden Fall sollten Pädagogen mitessen dürfen. Kein Kind zählt, wieviel dabei gegessen wird. Die Studienlage ist eindeutig: Allein, wenn die pädagogische Kraft nicht mitisst, hinterlässt das bei den Kindern den Eindruck, irgendetwas ist mit dem Essen nicht okay. Auch wenn diese wiederholt erklärt, sie würde später essen.
6. Können Sie uns nun noch den Unterschied zwischen Hunger und Appetit erläutern?
Der Unterschied ist gar nicht so groß. Rein von der Begrifflichkeit gibt es natürlich einen Unterschied: Hunger ist das, was physiologisch vorhanden ist. Aber auch Appetit hat eine körperliche Dimension und kann extrem stark sein. Unser Körper ist sehr geschickt darin, uns für ein Bedürfnis, das es gerade gibt, einen Hunger zu suggerieren, spürbar im Bauch. Im Wesentlichen ist beim Hungergefühl nicht so relevant, was es zu Essen gibt. Appetit hingegen ist häufig zielgerichtet, beispielsweise auf etwas Süßes.
Wir haben verlernt, uns intuitiv zu ernähren. Je länger wir leben, desto mehr Assoziationen haben wir zu bestimmten Lebensmitteln, sodass sie eben nicht mehr nur einen reinen Nährwert für uns haben, sondern mit Gefühlen wie Wärme, Trost und ähnlichem verknüpft sind. Das ist eigentlich nicht die Aufgabe von Essen. Was der Mensch im Grunde (wieder) lernen muss, ist hier ein bisschen zu trennen und zu reflektieren, welche anderen Dinge diese Gefühle vermitteln können. Der erste Schritt diesbezüglich wäre zu erkennen, wann man tatsächlich satt ist. Dies fällt schwerer, wenn man beispielsweise zu schnell und/ oder nebenbei isst.
Portionsgrößen beeinflussen auch die Essensmenge. Kleinere Verpackungen befriedigen mehr, weil ich weiß, dass ich z. B. ein ganzes Schälchen vom Nachtisch essen darf. Gibt es hingegen eine große Schüssel, aus der sich aufgetan werden kann, wird eher nachgefragt, ob man sich nachnehmen darf. Gerade bei Kindern würde ich dazu ermutigen, eher begrenzte, vorportionierte Größen anzubieten. Vor allem wenn Süßspeisen gemeinsam mit dem Hauptgericht serviert werden, kann der Reiz so stark sein, dass Kinder bei Salat, Suppe, Nudelgericht & Co. aufhören zu essen, weil sie auf jeden Fall noch Nachtisch essen wollen. Ein Lösungsansatz kann hier sein, eine kleine Nachtischportion quasi als Vorspeise zu ermöglichen.
Gerade beim Dessert kommen wir nicht umhin, dass es von den Kindern als eine Art Belohnung wahrgenommen wird. Aus der Erziehungswissenschaft wissen wir, dass eine zufällige „Belohnung“ eigentlich die beste ist, weil ich mich nicht darauf verlassen kann, dass es sie gibt. Insofern ist von Vorteil, wenn die Wochentage, an denen es Nachspeise gibt, variieren und zudem, dass das Dessert erst nach Beendigung des Hauptgangs aus der Küche geholt wird.
7. Wie können erwachsene Vorbilder Kinder dabei unterstützen, sich die natürliche Hunger-Sättigungsregulation zu erhalten?
Gute Essensbegleitung in kindgerechter Form heißt, über das Essen zu reden. Damit meine ich keine Sätze mit Gesundheitsbezug wie „das ist gesund“ oder „das ist gut für Dich“, sondern eher spielerische Fragen um die Mahlzeitensituation herum: „Wonach schmeckt es denn?“, „Wie sieht eigentlich ein Brokkoli aus, bevor er bei uns auf dem Teller liegt?“. Fragen Erwachsene jedoch: „Hast Du heute schon etwas getrunken?“, „Willst Du das nicht mal probieren?“, „Warum isst Du das nicht?“ oder „Warum lässt Du Deine Kartoffeln liegen?“ hat es lediglich einen Aufforderungscharakter, und das löst beim Kind die Annahme aus, etwas falsch gemacht zu haben. Kinder essen nicht mehr, nur weil sie animiert werden.
Die Momente sind wichtig, in denen man ein gutes Vorbild ist, etwa indem man langsam isst, hin und wieder das Besteck hinlegt, zwischendurch einen Schluck trinkt, Kinder anregt, es einem gleichzutun und das eigene Handeln kommentiert wie beispielsweise: „Jetzt muss ich mal überlegen, ob ich eigentlich schon satt bin. Ich trinke mal einen Schluck, und dann mag ich vielleicht doch noch etwas essen“. All diese Dinge laufen normalerweise unbewusst ab, und Kinder erkennen nicht, was im Erwachsenen vor sich geht. Durch lautes Denken kann man diese Prozesse ein bisschen transparenter machen und Kinder verstehen dadurch, warum das Gegenüber etwas auf eine bestimmte Art und Weise macht. Man sollte auch darüber reden, dass man etwas gern oder weniger gern mag. Authentisch sein ist hilfreich – Heimlichtuerei weniger. Das sorgt eher dafür, dass sich Kinder Gedanken machen.
Studien haben gezeigt, dass z. B. die Ernährungspyramide kognitiv verinnerlicht wird, die Empfehlungen aber leider wenig in den praktischen assoziativen Bereich des Gehirns gelangen, dem die direkte Umsetzung folgen würde. Die Kombination von sinnlichem Erleben mit impliziter Ernährungsbildung ist viel wirkungsvoller – zum Beispiel indem gemeinsam überlegt wird, welche Gemüse es gibt, worin sie sich unterscheiden, bei welchen Sorten die Schale mitgegessen werden kann usw. Solche kleinen Projekte können sofort praktisch im Kitaalltag umgesetzt werden. Je nachdem, wie alt die Kinder sind, können sie vielleicht noch nicht alles zubereiten. Aber Lebensmittel zu probieren, wahrzunehmen, wie sie schmecken und gegebenenfalls eine Rangfolge von süß, weniger süß, nicht süß aufzustellen, können Kinder, sobald sie reden können.