Demokratiebildung und Partizipation am Esstisch
7 Fragen an das Niedersächsische Institut für frühkindliche Bildung und Entwicklung (nifbe)
1. Die Kita gilt als „Kinderstube der Demokratie“. Was hat das mit Ernährung zu tun?
Am Essen zeigt sich deutlich, wie Kinder nach und nach selbständig werden, einen eigenen Willen entwickeln und lernen, ihre Meinung zu äußern. Mahlzeiten sind zentrale Momente des Kita-Alltags und bilden für Kinder und Erwachsene wichtige Anker- und – im besten Fall – Ruhepunkte im Tagesablauf. Sie können so gestaltet werden, dass sie als Bildungssituationen rund um die Mahlzeiten Kindern Zugang zu vielfältigen Erfahrungen ermöglichen: mit Nahrung, mit Gemeinschaft, mit Kultur und nicht zuletzt mit ihren eigenen Vorlieben. An den Fragen „Was essen wir?“, „Wie essen wir?“ und „Wann essen wir?“ werden individuelle und kulturelle Unterschiede deutlich. Da die Kita durch längere Betreuungszeiten ein wichtiger Sozialisationsort für Kinder ist, an dem sie in der Regel mehrere Mahlzeiten täglich einnehmen, können konzeptionelle Überlegungen zur Gestaltung der Essenssituationen einen wichtigen Beitrag zur Qualitätsentwicklung der Kita bilden. Die Beteiligung der Kinder an diesen Schlüsselsituationen ist ein Kinderrecht.
2. Demokratie(bildung) ist ohne Partizipation nicht möglich. Wie können sich alle Kinder bei der Mahlzeitengestaltung aktiv beteiligen und auch mitentscheiden?
Es gibt vielfältige Möglichkeiten, die Kinder an der Auswahl und Gestaltung der Mahlzeiten zu beteiligen. Kita trägt dazu bei, wie Kinder essen lernen. Sowohl für den Krippen-Alltag, für die Kita mit Kindern von 3−6 Jahren und für altersübergreifend arbeitende Einrichtungen gibt es Konzepte für partizipativ gestaltete Mahlzeiten. Die Phasen des Selbständigwerdens von Kindern in Bezug auf das Essen gehen fließend ineinander über. Vom ‚Gefüttert werden‘ über ‚Gefüttert werden und selber essen‘ hin zum ‚Selbständig essen und an einer Tisch-Gemeinschaft teilhaben‘ führt ein jahrelanger Weg, der sensibel begleitet und unter Umständen mit zwischenzeitlichen Rückschritten gegangen werden kann.
Wenn es Kindern möglich ist, früh aus einem Angebot an Lebensmitteln auszuwählen, entdecken und entwickeln sie dadurch ihre Vorlieben. Projekte wie Wunschessen-Tage oder Mitbestimmungs-Verfahren bei der Erstellung des wöchentlichen Speiseplans werden mit Erfolg und zur großen Freude der Kinder in vielen Kitas praktiziert. Dass dabei eine Vielzahl ausgewogener Speisen angeboten und nicht aufgezwungen wird, sollte eine Selbstverständlichkeit sein. Auch das gemeinsame Herrichten der Mahlzeit und Decken der Tische sind verbreitete Beteiligungsformen. Die Einrichtung einer voll funktionsfähigen Kinderküche ist ebenfalls eine Möglichkeit, die in einigen Kitas populär und von Kindern sehr geschätzt ist.
Bereits sehr kleine Kinder zeigen ihre Bedürfnisse und Vorlieben deutlich. Bekommen sie Speisen angeboten, die sie nicht essen möchten, drehen sie den Kopf zu Seite. Diese Art von nonverbalem Ausdruck ist der Beginn von Selbstverantwortung und Einstehen für die eigenen Interessen und kann als frühe Form einer Beschwerde betrachtet werden.
3. Beschwerdemanagement in der Kita ist ein gutes Stichwort. Wie sollten Verfahren dazu gestaltet sein?
Kinder lernen nach und nach, ihre Bedürfnisse auszudrücken. Bei kleinen Kindern geschieht dies unmittelbar und nonverbal. Mit fortschreitendem Sprachvermögen können Kinder ihre Wünsche und Bedürfnisse verbalisieren und zum Beispiel benennen, dass sie hungrig oder satt sind und was ihnen schmeckt oder nicht schmeckt. Diese Ausdrucksfähigkeit zu erlangen ist ein Erziehungsziel und ein Baustein für ein gelingendes Leben. Damit einher geht das Hineinwachsen in eine Gemeinschaft und die Erlangung der dafür nötigen Fähigkeit, im Alltag immer wieder Kompromisse zu finden, um in der Gruppe gut miteinander auszukommen. Dies gelingt nur, wenn man die eigenen Interessen vertreten, sich aber auch in Andere hineinzuversetzen und dadurch gute Lösungen für allen Beteiligten finden kann. Ein kultursensitives Vorgehen ist empfehlenswert, da in gemeinschaftsorientierten Kulturen die Betonung der individuellen Bedürfnisse anders bewertet wird.
Praktische Formen von Beschwerdeverfahren in der Kita sind beispielsweise ein Kummerkasten für Kinder, Gesprächsmöglichkeiten im Rahmen des Morgenkreises, Gruppenrates oder Kitaparlaments, die Einrichtung einer Beschwerdebox oder -wand und das regelmäßige Einholen von Feedback (von Kindern und Eltern) durch die Fachkräfte.
4. Partizipation von Kindern ist ein wichtiger Beitrag zu mehr Chancen- und Bildungsgerechtigkeit. Wie können wir uns das am Beispiel Verpflegung vorstellen?
Ein Blick in die Brotbox zeigt oft, welcher Schicht/ welchem Milieu/ welcher Kultur die Familie eines Kindes angehört. Kinder sind früh sensibel für Unterschiede und ein gleiches Essensangebot für alle ist – nicht nur aus gesundheitlichen Gründen – wünschenswert. Nicht ohne Grund ist die Teilnahme an der gemeinschaftlichen Mittagsverpflegung in Kitas über das Bildungs- und Teilhabe-Paket (BuT) gesichert.
5. Welche Rolle spielt die pädagogische Fachkraft dabei?
Die pädagogische Fachkraft hat beim Essen eine wichtige Vorbildfunktion. Sie kann Kinder z. B. durch ihr Mit-Essen in der Gruppe und durch Laute zum Essen allgemein und zum Ausprobieren ungewohnter Speisen anregen. Essenssituationen sind Schlüsselsituationen im Kita-Alltag. Durch ihre bewusste Gestaltung werden sie zu einem wohltuenden Element des Kita-Tages, das von Verlässlichkeit und Zuwendung geprägt ist und gemeinschaftsbildend wirkt. Wie in anderen Schlüsselsituationen geht es dabei um gelingende responsive Interaktionen zwischen Kind und pädagogischer Fachkraft. Die Voraussetzung für eine professionelle Haltung in Bezug auf Essenssituationen ist die biografische Selbstreflexion von pädagogischen Fachkräften, da viele Menschen nach wie vor von autoritären Erziehungsstilen geprägt sind. Essen sollte niemals als Druckmittel oder Belohnung verwendet werden!
6. Inwieweit spiegelt sich dies auch transparent im Konzept und in den Strukturen der Kita wider?
Schlüsselsituationen können bzw. sollten von Kita-Teams gemeinsam durchdacht und bearbeitet und in Form von Handlungs-Leitsätzen im Kita-Konzept verankert werden. Partizipation ist eine Querschnittsaufgabe und als Kinderrecht in jeder Alltags-Situation anwendbar. Dazu bedarf es einer guten Abstimmung im Team, um eine tragfähige gemeinsame Basis zu schaffen, durch die individuelle Handlungsoptionen als Bereicherung ohne Sprengkraft erlebt werden können. Die Beziehungsebenen zwischen Kindern und Fachkräften, Eltern und Fachkräften, innerhalb des Teams und zwischen Team und Leitung können mit Gewinn in die Überlegungen zur Gestaltung von partizipativen Verfahren und Strukturen einbezogen werden.
7. Wie können Eltern ihr Recht auf Beteiligung in diesem Bereich wahrnehmen?
Nicht ohne Grund wird von „Essbrücken“ gesprochen, die ein wichtiger Baustein der Ernährungsbildung sind und sich vor allem als wohltuend vertraute Bindeglieder zwischen Familien und Kitas bewährt haben. Wenn Kinder Speisen von zu Hause mitbringen, gibt ihnen dies die Möglichkeit, eine vertraute und wohltuende Situation im Kita-Alltag herzustellen. Im besten Fall können sogenannte „Ankerspeisen“ Kinder beruhigen und stabilisieren. Dabei ist streng auf den Unterschied zu „Trostessen“ zu achten.
Die Essgeschichten von Kindern und ihren Familien kennenzulernen ist für die pädagogischen Fachkräfte ein wichtiges Hilfsmittel zum besseren Verständnis von deren Lebenswelt. Bei Festen und Feiern können die Eltern zum Mitbringen von Speisen eingeladen werden.
Eine einfache Art, Eltern Einblicke in das Essensangebot der Kita zu ermöglichen, sind Aushänge mit bebilderten Speiseplänen, die eventuell in unterschiedlichen Sprachen gestaltet werden können. Da die Wünsche von Eltern und Kindern in Bezug auf Essen divergieren können, ist auf die Ausbalancierung ihrer jeweiligen Beteiligungsrechte zu achten.
Julia Krankenhagen, Iris Hoffman und Merle Drexhage von der Regionalen Transferstelle SüdOst des nifbe standen Rede und Antwort bei diesem Interview. Das Kitavernetzungsstellen-Team sagt herzlich Danke.