Essverhalten
Übersicht
Die Entwicklung des kindlichen Essverhaltens beginnt bereits im Mutterleib und erstreckt sich in unterschiedlichen Phasen bis ins Jugendalter. Es ist ein stetiger Lernprozess, während dem sich Kinder an ihren jeweiligen Bezugspersonen orientieren. Die Kindertagesbetreuung bietet rund 1000 Tage Zeit, Ernährungsmuster und -kompetenzen bei den Jüngsten auszuprägen. Kinder brauchen dabei Vorbilder mit klarer, professioneller Haltung zum Thema Essen und einem Bewusstsein für die eigene Essbiographie. Denn Kindertagespflegepersonen sind für bis zu 15 Mahlzeiten im Wochenverlauf zuständig und nehmen dabei großen Einfluss auf kindliche Entwicklungsprozesse.
Auf einen Blick
- Vor der Geburt werden Kinder kontinuierlich und passiv mit Nährstoffen versorgt – ab der Geburt und innerhalb der ersten zwei Lebensjahre verändert sich die Ernährungsform hin zu einer aktiven.
- Über Fruchtwasser und Muttermilch nehmen Kinder bereits Aromen der mütterlichen Nahrung auf.
- Neugeborene haben etwa doppelt so viele Geschmacksknospen wie erwachsene Personen und riechen und schmecken somit um ein Vielfaches besser. Der Geschmackssinn entwickelt sich ein Leben lang.
- Zunächst steuern Hunger und Sättigung die Nahrungsaufnahme, äußere Einflüsse und Lernprozesse nehmen im Laufe des Lebens zu.
- Kinder lernen zu essen und entwickeln nach und nach die dafür notwendigen körperlichen und motorischen Fähigkeiten.
- Eine abwechslungsreiche Lebensmittelauswahl während der Beikostphase und am Familientisch bzw. Esstisch der Kindertagesbetreuung schließt sich an, macht Kinder mit vielen verschiedenen Geschmäcken bekannt und beeinflusst ihre Vorlieben und Abneigungen.
Im Gespräch mit Kindertagespflegepersonen und Erziehungsberechtigten
Das Essverhalten von Kindern wird bereits während der Schwangerschaft beeinflusst und ist auch in der Säuglingsphase geprägt von der mütterlichen Ernährung. Eine gesundheitsfördernde Lebensmittelauswahl für Beikost und Familienkost wirkt positiv auf das Essverhalten von Kindern ein und prägt ein Leben lang. Durch Nachahmung und Orientierung an Bezugspersonen lernen Kinder, welche Lebensmittel und Speisen „sicher“ sind und auch, wie zum Beispiel Besteck benutzt wird. Bezugspersonen, besonders Kindertagespflegepersonen, sollten sich ihrer Vorbildfunktion bewusst sein und Kinder in ihrer zunehmenden Selbstständigkeit entwicklungsentsprechend unterstützen.
Ausführliche Informationen
(1) Essen und Trinken – eine Notwendigkeit
Zum Wachsen und für die Entwicklung benötigen Kinder regelmäßig Nahrung. Anders als bei Erwachsenen verfügt der Körper eines Kindes über viel weniger Speichermöglichkeiten und kann einen Nahrungs- bzw. Nährstoffmangel kaum abfangen. Da besonders in der Wachstumsphase körperliche Strukturen ständig auf- und auch umgebaut werden, ist die Nahrungsqualität (siehe Speiseplanung) von Bedeutung: Denn die Nahrung ist der Rohstoff, aus dem der menschliche Organismus für seine Entwicklung und Aufrechterhaltung schöpft – und zwar ein Leben lang.
(2) Essen will gelernt werden – Voraussetzungen fürs Essen und Trinken
Essen und Trinken wie Erwachsene – für Kinder ist das ein mehrere Jahre andauernder Lern- und Entwicklungsprozess. Einerseits reifen Stoffwechsel- und Verdauungsorgane erst nach und nach aus; andererseits fehlt es Kindern zunächst z. B. an der notwendigen Mundmotorik und Zähnen sowie den Fähigkeiten, aufrecht zu sitzen und Besteck zu benutzen. Alle Kinder durchleben in etwa die gleichen Entwicklungsschritte, jedes Kind allerdings in seiner ganz persönlichen Geschwindigkeit (siehe Kompetenzen).
Organentwicklung Säuglingsphase| Das noch unreife Gehirn wächst ab der Geburt kontinuierlich und steuert alle körperlichen Prozesse rund um Essen, Verdauung und Stoffwechselleistungen.
In den ersten fünf Lebensmonaten kann allein Muttermilch (bzw. industriell hergestellte Säuglingsanfangsnahrung) verdaut und verwertet werden (siehe Besonderheiten U3). Muttermilch passt sich über die Monate hinweg in ihrer Zusammensetzung dem Bedarf und Wachstum des Säuglings an und fördert so dessen Entwicklung. Magen, Darm, Nieren und Leber entwickeln sich während des ersten Lebensjahres und bilden ihre Funktionen mitunter erst im Laufe des zweiten vollständig aus. Der Magen von Säuglingen ist noch sehr klein, sodass nur geringe Nahrungsmengen verzehrt werden können. Daraus erklärt sich die Notwendigkeit für häufigere Milchmahlzeiten im Tagesverlauf.
Organentwicklung Beikostphase | Es gilt, die Nahrung an die körperliche Entwicklung anzupassen: Die unreifen Organe sind der Grund, warum Beikost (siehe Besonderheiten U3) ungesalzen und ohne scharfe Gewürze angeboten werden sollte. Auch schwer verdauliche Fette belasten die Verdauungs- und Stoffwechselleistungen, sodass darauf ebenfalls verzichtet werden sollte.
Immunsystem | Das Immunsystem befindet sich, wie die Organe, noch in der Entwicklung. Krankheitserregende Keime auf Lebensmitteln und Speisen stellen daher eine große Gesundheitsgefahr für Säuglinge und (Klein-)Kinder dar und erfordern geeignete Hygienemaßnahmen (siehe Lebensmittelhygiene | Essen mitbringen).
Entwicklung der Sinne | Beim Essen werden fast alle Sinne angesprochen. Hören, Sehen und Berührungen sind wichtige Wahrnehmungen in der Füttersituation zwischen einem (Klein-)Kind und dessen Bezugsperson, die auch verarbeitet werden müssen. Zudem entwickelt sich der Gleichgewichtssinn, der Kindern letzten Endes eine zunehmend stabilere Haltung ermöglicht, bis sie von alleine sitzend essen und trinken können. Etwa mit Vollendung des ersten Lebensjahres erreichen Kinder die Wahrnehmungskompetenz eines Erwachsenen.
Motorische Entwicklung | Essenlernen funktioniert nur mit der Entwicklung motorischer Fähigkeiten.
Milchphase | Im Mutterleib können Kinder bereits saugen und schlucken. Nach der Geburt ermöglicht es der Suchreflex dem Säugling, seinen Kopf in die Richtung zu drehen, aus der seine Wange berührt wird, zum Beispiel mit der Brustwarze der Mutter oder dem Sauger einer Flasche. Der ebenfalls angeborene Saug-Schluck-Reflex sorgt wiederum dafür, dass der Säugling die Nahrungsquelle in den Mund nimmt, daran saugt und Milch schluckt. Unbekannte Stoffe kann der Säugling mit dem Zungenstreck- und Zungenstoßreflex wieder aus dem Mund befördern.
Beikostphase | Zwischen dem fünften und siebten Lebensmonat können Kinder ihren Kopf selbstständig halten und kontrollieren, sodass mit der Beikost begonnen werden kann.
Der Zungenstreck- und Zungenstoßreflex erschweren zunächst die Gewöhnung an die Beikost und das Trinken aus dem Glas. Nach und nach werden beide durch neu erlernte Mund- und Zungenbewegungen ersetzt: Die Zunge schiebt den Brei im Mundraum nach hinten und am Gaumen entlang, durch dessen Berührung der Schluckreflex ausgelöst wird. Das Erlernen dauert mitunter mehrere Wochen, und zu Beginn nimmt der Säugling nur wenig Brei auf, sodass weiterhin begleitende Milchmahlzeiten notwendig sind.
Die Auge-Hand-Koordination entwickelt sich etwa ab dem vierten bis fünften Lebensmonat. Etwa zwischen dem sechsten und zehnten erlernen Kinder den Pinzettengriff mit zwei geraden Fingern; der Zangengriff mit gekrümmten Fingern entwickelt sich im ähnlichen Zeitraum. Parallel dazu lernen Kinder schließlich zu sitzen. Verschiedene Sitzmöglichkeiten werden geübt, genauso das erste Benutzen von Besteck.
Familienkost | Tischgemeinschaft | Spätestens mit Vollendung des ersten Lebensjahres beginnen Kinder selbstständig zu essen (siehe Selbstbestimmung). Es folgt ein kontinuierliches Üben neuer Fertigkeiten und Fähigkeiten, wie das selbst auftun einer Speise, das Schmieren und Schneiden von Brot und vieles mehr. Bis dahin unbekannte Speisen und Lebensmittel fordern Kinder weiterhin heraus. Eine langsame Gewöhnung ist zu empfehlen.
Ab eineinhalb Jahren können Kinder beim Decken des Tischs oder Zubereiten einer Speise eingebunden werden. Diese Alltagssituationen bieten Bildungsanlässe, in denen Kinder ihre feinmotorischen Fähigkeiten und Fertigkeiten ausprobieren und trainieren können (siehe Kompetenzen | Bildungsanlass).
(3) Entwicklungsphasen des Essverhaltens
Verschiedene biologische, physiologische und pädagogische Mechanismen prägen und fördern die Entwicklung des Essverhaltens bei Kindern. Die Ernährungsform ändert sich entwicklungsabhängig vor allem mit der Geburt und während der ersten zwei Lebensjahre: Im Säuglings- und Kleinkindalter steuern Innenreize, d. h. Hunger und Sättigung. Diese werden mit zunehmendem Alter überlagert. Das Essverhalten wird vermehrt durch äußere Reize, wie Familie, Freunde und Werbung beeinflusst, aber im Laufe des Lebens auch durch rationale Einstellungen wie Ernährungswissen (siehe Abbildung 3-Komponenten-Modell des Essverhaltens (modifiziert nach Pudel/ Westenhöfer)).
Pränatale Versorgung | Über die Nabelschnur versorgt die Mutter das ungeborene Kind passiv und kontinuierlich mit Nährstoffen, sodass die körperliche Entwicklung stetig voranschreitet.
Säuglingsphase | Die ununterbrochene Versorgung endet mit der Geburt, und die Wahrnehmung von Hunger setzt ein. Über den angeborenen Saug-Schluck-Reflex versorgt sich der Säugling aktiv selbst bis zu 16-mal pro Tag mit Muttermilch oder Säuglingsanfangsnahrung. Dabei wird sowohl der physiologische Hunger gestillt als auch der emotionale durch die Nähe zur Mutter. Etwa mit dem fünften bis sechsten Lebensmonat endet der Saug-Schluck-Reflex und Muttermilch reicht zur Deckung des Nährstoffbedarfs nicht mehr aus (siehe Besonderheiten U3).
Beikostphase | Unterstützt durch Bezugspersonen können Kinder etwa nach dem ersten Lebenshalbjahr aufrecht sitzen und ihre Kopfhaltung kontrollieren (siehe Selbstbestimmung | Kompetenzen). Neben der Gabe von Muttermilch bzw. Säuglingsanfangsnahrung wird breiige Nahrung, geeignetes Fingerfood und das Trinken von Wasser aus einem Glas eingeführt. Während des zweiten Lebenshalbjahres werden so Milchnahrungen nach und nach ersetzt. Etwa 6-mal am Tag benötigen Kinder etwas zu essen und entwickeln allmählich Neugierde an Lebensmitteln. Das Nahrungsangebot wird von Bezugspersonen vorgegeben.
Familienkost | Rund um den ersten Geburtstag ersetzt feste Nahrung Milchnahrungen schließlich ganz, die Beikost wird zunehmend stückiger und geht Schritt für Schritt in die Familienkost über. Damit wird das Essen an etwa 5 feste Mahlzeiten pro Tag und deren Rhythmus gebunden. Regelmäßige Mahlzeiten bieten Kindern eine Struktur und Sicherheit (siehe Essatmosphäre). Die direkte Bedürfnisbefriedigung findet nicht mehr statt, sondern der Bedürfnisaufschub wird erlernt. Mit der Entwicklung des Zahnstatus wird auch das Kauen trainiert. Die Esssituation orientiert sich mit zunehmender Fähigkeit des eigenständigen Sitzens vom Schoß der Bezugsperson weg und hin zu einem eigenen Platz am Esstisch (siehe Selbstbestimmung).
Imitation | Durch Nachahmung und Ausprobieren lernen Kinder zwischen dem neunten und 15. Lebensmonat zum Beispiel das Benutzen von Besteck und anderem Geschirr. Beides sollte kindgerecht sein (siehe Essatmosphäre). Wie sich am Esstisch verhalten wird, übernehmen Kinder durch Beobachten der Bezugspersonen genauso wie die Einschätzung, ob ein Lebensmittel genießbar ist.
Motive | Zur Bedürfnisbefriedigung und Neugierde kommen weitere Motive fürs Essen hinzu, wie Appetit und Gemeinschaftserleben, aber auch Beschäftigung und Trotz. Der (kommunikative) Kontakt zur Tischgemeinschaft während gemeinsamer Mahlzeiten befriedigt zudem den emotionalen Hunger nach sozialem Kontakt und lehrt zugleich durch Regeln, Rituale (siehe Regeln und Rituale) und Nachahmung der Bezugspersonen gesellschaftliche Normen.
Zahnentwicklung | Wann die ersten Milchzähne durchbrechen ist von Kind zu Kind sehr verschieden. Die ersten Zähne des Milchgebisses sind in der Regel die unteren mittleren Schneidezähne, die etwa zwischen dem fünften und achten Lebensmonat kommen. Die oberen Schneidezähne folgen und ermöglichen ein Abbeißen von einem Lebensmittel. Erst im zweiten Lebensjahr brechen die Backenzähne durch, mit denen gekaut werden kann. Bis dahin zerdrücken Kinder weiche Lebensmittel mit der Zunge und dem Gaumen. Feste Nahrung abzubeißen und rotierend zu kauen gelingt mit etwa eineinhalb Jahren. Bis zur Vollendung des zweiten Lebensjahres brechen schließlich die Eckzähne durch. Die zweiten Backenzähne folgen als letzte. Im dritten Lebensjahr können Kinder in der Regel die meisten Speisen und Lebensmittel essen.
Allein durch das Kauen fester Lebensmittel wie roher Möhren- und Apfelstücke werden Zähne mechanisch gereinigt (siehe Essalltag). Zudem fördert Kauen die korrekte Stellung des Ober- und Unterkiefers sowie die Zahnstabilität. Beim Schlucken legt sich die Zunge an den Gaumen, wodurch die sprachliche Entwicklung positiv gefördert wird.
(4) Geschmacksentwicklung
Neugeborene haben doppelt so viele Geschmacksknospen auf ihrer Zunge und im Mundraum wie Erwachsene. Damit können sie nicht nur sehr viel feiner abgestuft schmecken, sondern auch riechen. Bis zum dritten Lebensjahr reifen die Geschmacksknospen aus – der Geschmackssinn eines Menschen entwickelt sich aber das ganze Leben.
Fruchtwasser | Erste Geschmacksrichtungen | Das ungeborene Kind nimmt bereits über das Fruchtwasser Aromen aus der Ernährung der Mutter auf und nimmt diese positiv wahr oder später sogar an. Es kann süß, sauer und bitter schmecken.
Die Vorliebe für süß ist bereits deutlich ausgeprägt. Evolutionsbedingt galten süße Nahrungsmittel wie Gemüse und Obst als sicher, liefern Energie und sind reich an Vitaminen und Mineralstoffen. Ein saurer und/ oder bitterer Geschmack wird zunächst abgelehnt, denn er deutet auf Verderb, Ungenießbarkeit oder Giftigkeit hin.
Muttermilch | Auch über die Muttermilch werden Geschmackserfahrungen übertragen und beeinflussen das Kind.
Beikost | Familienkost | Weitere Geschmacksrichtungen | Aromen und Geschmackskomponenten, mit denen Kinder durch die Beikost und später durch die Familienkost in Berührung kommen, prägen ihren Geschmack. Ein vielfältiges Angebot an Speisen und Lebensmitteln ist dafür essenziell (siehe Speiseplanung).
Die Geschmacksrichtung salzig schmecken Kinder erst im Laufe des ersten Lebenshalbjahres und entwickeln, ähnlich wie für süß, dafür eine Vorliebe. Etwa im neunten Lebensmonat wird die Geschmackspalette mit umami komplett. Es steht für eiweißreich, fettig, fleischig. Kinder haben einen hohen Energiebedarf und sind darauf programmiert, Lebensmittel mit einem hohen Energiegehalt zu bevorzugen, denn sie sättigen langanhaltend.
Vorbilder | Kleinkinder vertrauen und verlassen sich bei Speisen und Lebensmitteln auf das, was ihre Bezugspersonen anbieten (siehe Selbstbestimmung). Vorlieben und Abneigungen können familiär übernommen werden. Aber auch Kinder gleichen Alters werden nachgeahmt. Damit Kindertagespflegepersonen mit berufsbiografischer Haltung Kindern ein Vorbild sind, ist es für sie empfehlenswert, zunächst die eigene Beziehung zum Thema Essen sowie ihr persönliches Essverhalten zu reflektieren (siehe Begleitung).
Abneigungen und Vorlieben | Lehnen Kinder saure und bittere Lebensmittel ab, kann es mitunter allein an biologisch bedingten Steuerprogrammen und Überlebensstrategien liegen. Kombiniert mit energiereichen, sättigenden Lebensmitteln wie Vollkornprodukten, Hülsenfrüchten, Fleisch, Fisch und Eiern, können aber auch diese positiver besetzt werden. Wie Vorlieben können Abneigungen durch Erfahrungen verändert werden. Der sogenannte „mere exposure effect“ beschreibt das Kennen- und Liebenlernen unbekannter Speisen und Lebensmittel durch wiederholtes Probieren.
Kulturelle Prägungen | Kinder gewöhnen sich an das, was ihnen angeboten wird und lernen es nicht nur zu mögen, sondern als sicher und bekannt einzuordnen. So sind Essgewohnheiten oft vom familiären Umfeld übernommen. Vorlieben und Abneigungen können kulturell geprägt sein: In manchen Kulturkreisen wird von klein auf scharf gegessen, in anderen ist der Verzehr von Insekten normal. Kindertagespflegepersonen sollten mit den Erziehungsberechtigten abklären, an welche Essgewohnheiten das Kind gewöhnt ist. Das geht über die Speisen und Lebensmittel hinaus und umfasst auch Abläufe sowie Rituale (siehe Regeln und Rituale).
(5) Schwierigkeiten und Störungen rund ums Füttern, Essen und Trinken
Gerade während der Übergangsphasen von der Milch- hin zur Beikostphase und weiter zur Familienkost kann es zu Anpassungsschwierigkeiten beim Füttern und/ oder Essen kommen. In der Regel legen sich diese von selbst, sobald sich Kinder an die neue Situation gewöhnt haben. Auch essen Kinder nicht immer gleich viel, sondern angepasst an zum Beispiel Tagesform, Befindlichkeit und Wachstum unterschiedlich große Mengen. Bestehen Zweifel oder Unsicherheiten, ob ein Kind ausreichend versorgt ist, genug wiegt, oder Auffälligkeiten wie häufiges Hochwürgen, Erbrechen oder Unlust zum Essen zeigt, sollten medizinischer Rat eingeholt und organische Ursachen abgeklärt werden.
Neophobie | Kinder meiden ihnen unbekannte Speisen und Lebensmittel bzw. Geschmäcke oder lehnen sie ab. Es benötigt Zeit und mehrfaches Probieren, bis sie akzeptiert werden können (siehe Selbstbestimmung).
Ankerlebensmittel | Einfache, neutrale Speisen/ Lebensmittel wie eine Möhre, ein Apfel und Knäckebrot können Kindern als Ankerlebensmittel dienen, wenn sie mit einer neuen Situation (zum Beispiel Eingewöhnung in der Kindertagespflegestelle) überfordert sind, um sich am Speisenangebot zu bedienen. Ankerlebensmittel sind von zu Hause aus vertraut, akzeptiert, geben Orientierung und Sicherheit und schaffen Ruhe, damit Kindern der Übergang zur außerfamiliäre Tischsituation gelingen kann.
Getrennte Speisekomponenten | Manche Kinder probieren unbekannte Lebensmittel oder Speisen eher, wenn sie sie einzeln kosten können. Beispielsweise kann ein Klecks Soße am Tellerrand probiert werden. Schmeckt die Soße kann sie mit Nudeln kombiniert werden; schmeckt sie nicht, sind zumindest die Nudeln pur eine Option. Nudeln vermischt mit Soße, die Kindern nicht schmeckt, stellen ein schier unlösbares Dilemma dar.
Wachsende Selbstständigkeit | Kinder wollen ernst genommen werden. Sich entwickelnde Fähigkeiten wollen geübt und ausprobiert werden, wie zum Beispiel das selbstständige Halten des Löffels. Aber auch ein anderes Interesse, wie das Weiterspielen, kann wichtiger sein als das Essen zu der festgelegten Zeit. Kinder zwischen zwei Optionen wählen zu lassen, kann Stress und Ärger vermindern und zugleich die Mit- und Selbstbestimmung fördern (siehe Selbstbestimmung).
Wählerisches Essverhalten | Sehr wählerisch essende Kinder (Picky Eater) verzehren über einen längeren Zeitraum nur bis zu 30 verschiedene Lebensmittel. Nach mehrwöchigen Pausen können einzelne Lebensmittel wieder neu akzeptiert werden und andere, zuvor akzeptierte, werden plötzlich abgelehnt. Diese Phasen treten im Alter zwischen zwei und sechs Jahren auf und gehen häufig von alleine vorbei. Angenehme Mahlzeitensituationen können Kinder zu einer schrittweisen Erweiterung ihres Lebensmittelspektrums motivieren (siehe Essatmosphäre).
Essen und Beziehung | Eine gute, angenehme und vertrauensvolle Beziehung zwischen Kindern und ihren Bezugspersonen ist wichtig für die Entwicklung ihres Essverhaltens. Denn durch gemeinsam eingenommene Mahlzeiten in entspannter Atmosphäre (siehe Essatmosphäre) wird neben dem Hunger nach Nahrung auch der „Seelenhunger“ befriedet. Liegt eine gestörte Beziehung vor, essen Kinder zum Teil weniger gern oder auch ohne Maß. Sie sind sozusagen auf der Suche nach seelischer Nahrung. Wird diese in Form von Beziehung und Selbstbewusstsein geboten kann sich ein gesundheitsförderndes Essverhalten entwickeln.
Fütterstörungen | Jungen Kindern ist es nicht möglich, selbstständig zu essen. Sie sind auf die Interaktion mit einer Bezugsperson angewiesen. Hier kann es zu verschiedenen Fütterstörungen kommen. Darunter fallen beispielsweise:
- Regulations-Fütterstörung | Es liegt keine körperliche Erkrankung als Ursache vor. Kinder sind zu gestresst oder zu schläfrig zum Essen. Empfohlen werden Maßnahmen zur Entspannung.
- Fütterstörung der wechselseitigen Interaktion | Es liegt keine körperliche Erkrankung als Ursache vor. Kinder halten beim Füttern keinen Blickkontakt, lächeln und „plaudern“ nicht. Kinder und Bezugsperson haben eine gestörte Beziehung zueinander, und das Kind ist häufig in einem schlechten Ernährungszustand.
- Frühkindliche Anorexie | Es liegt keine körperliche Erkrankung als Ursache vor. Kinder weisen Gedeih- und Wachstumsstörungen auf, verweigern zu essen, zeigen weder Hunger noch Interesse an Speisen und Lebensmitteln.
Weitere Fütterstörungen ergeben sich unter anderem aus Grunderkrankungen des kindlichen Magen-Darm-Trakts sowie aus posttraumatischen Gründen. Das Einholen medizinischer Hilfe sowie das Wahrnehmen der regelmäßigen Kontrolluntersuchungen für Kinder wird empfohlen.
Stand: 11/2024
Quellen
- Netzwerk Gesund ins Leben (2023): Was tun, wenn Kleinkinder sehr wählerisch beim Essen sind? Nachgefragt beim Netzwerk Gesund ins Leben; zuletzt geprüft am 16.08.2024
- Netzwerk Gesund ins Leben (2022): So lernen Kleinkinder essen. Abenteuer Esstisch; zuletzt geprüft am 16.08.2024
- Gutknecht, D. (2021): Zentrale Lebensaktivitäten achtsam begleiten. Essen und Trinken in der Kindertagespflege. Zeitschrift für Tagesmütter und Tagesväter. Ausgabe 4, Seiten 2–5. Klett Kita GmbH, Stuttgart
- Methfessel, B. (2021): Nahrung für Körper und Seele. Über den Zusammenhang von Essen mit Verunsicherung und Sicherheit, Spannung und Entspannung. Zeitschrift für Tagesmütter und Tagesväter. Ausgabe 4, Seiten 8–9. Klett Kita GmbH, Stuttgart
- Müller, D. (2019): Gesund im Mund. Zahngesundheit von Babys und Kleinkindern. Zeitschrift für Tagesmütter und Tagesväter. Ausgabe 4, Seiten 12–13. Klett Kita GmbH, Stuttgart
- Nedebock, U. (2019): Essen mit Kita-Kindern. Die kleinen Hefte. Cornelsen, Berlin
- Gutknecht, D. und Höhn, K. (2017): Essen in der Kinderkrippe. Achtsame und konkrete Gestaltungsmöglichkeiten. Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau
- Klotter, C. (2017): Einführung Ernährungspsychologie. 3., aktualisierte Auflage. utb GmbH, Stuttgart
- Methfessel, B. et al. (2016): Essen und Ernährungsbildung in der Kita. Entwicklung – Versorgung – Bildung. Kohlhammer, Stuttgart
- Peterseil, M. et al. (2016): Einflussfaktoren auf die Geschmacksentwicklung von Säuglingen. Pädiatrie & Pädologie, 4, 156 – 160
- Schockemöhle, J. und Stein, M. (2015): Nachhaltige Ernährung lernen in verschiedenen Ernährungssituationen. Verlag Julius Klinkhardt. Bad Heilbrunn
- Kersting, M. (2013): Altersentsprechende Ernährung. Kapitel 26, erschienen in: Rodeck, B. und Zimmer, K.-P. (Hrsg. | 2013): Pädiatrische Gastroenterologie, Hepatologie und Ernährung. Springer-Verlag Berlin, Heidelberg
- Krenz, A. (2013): Kinderseelen verstehen. Verhaltensauffälligkeiten und ihre Hintergründe. Kösel-Verlag, München
- Gahagan, S. (2012): The Development of Eating Behavior – Biology and Context. Journal of Development & Behavioral Pediatrics, 33, 3
- Rustemeyer, R. (2010): Sattsein kann man spüren, Hunger auch. Kleinstkinder in Kita und Tagespflege. Sonderheft Ernährung & Gesundheit, S. 43–47. Herder, Freiburg
- Ellrott, T. (2009): Einflussfaktoren auf die Entwicklung des Essverhaltens im Kindesalter. Oralprophylaxe & Kinderzahnheilkunde, 31, 2, S. 78–85. Deutscher Ärzte-Verlag, Köln
- Pudel, V. und Westenhöfer, J. (2003): Ernährungspsychologie. Eine Einführung. 3., unveränderte Auflage. S. 47. Hogrefe Verlag für Psychologie, Göttingen